Wenn es Euch interessiert, werde ich Euch eine kurze Geschichte aus meiner Kindheit erzählen…
Ich kann nicht behaupten, ein braves Kind gewesen zu sein, aber auch nicht bösartig, eher abenteuerlustig. Als ich im Alter zwischen vier und fünf Jahren war, arbeitete mein Vater noch in der Ziegelei in Reihen, 4 km von unserem Heimatdorf Ittlingen entfernt. Ittlingen war damals ein reines Bauerndorf mit 1600 Einwohnern.
Mein Vater erzählte mir von seiner Tätigkeit in der Ziegelei, zum Beispiel wie aus dem Lehm Backsteine und Ziegel gepresst und diese in den Ofenkammern steinhart gebrannt wurden. Die Öfen wurden mit Koks beheizt, der von oben durch ein Loch in der Decke der Ofenkammern rieselte. Dafür sorgten spezielle Apparate, damit eine gleichmäßige Befeuerung stattfinden konnte. Das alles war sehr aufregend und mein Vater versprach, mir die Ziegelei einmal zu zeigen.
An einem schönen Tag, als die Sonne schien, stand ich gegenüber vom Rathaus beim Bäcker Gruner, wo ich mir gerade noch einen meiner geliebten Laugenweckle geholt hatte mit meinem Kinderschultäschle bereit, um in den von mir nicht geliebten Kindergarten zu gehen. Ich wartete auf Kecks Erik, den Nachbarsjungen, der sich auch nicht so gerne zu diesem Ort begab.
Wie dann im Laufe unseres Gesprächs die Idee, nach Reihen zu marschieren entstand, kann ich heute nicht mehr nachvollziehen. Jedenfalls sagte ich zu Erik, dass ich doch gerne meinen Vater in der Ziegelei in Reihen besuchen würde und Erik meinte, dass er dort gerne einmal seine Großmutter besuchen würde.
Also beschlossen wir, nachdem wir uns beraten hatten, welchen Weg wir gehen müssten, unsere edlen Wünsche umzusetzen und nach Reihen zu laufen.
Autoverkehr gab es damals so gut wie nicht, die Straße war aber asphaltiert. Die Sonne schickte ihre warmen Strahlen auf uns herab und lud uns auf halbem Weg oben über dem Steinbruch mit dem schönen Blick ins Tal zu einer Vesperpause ein, wofür der Inhalt unseres Kinderschultäschles sorgte. Danach liefen wir gestärkt und frohen Mutes unserem Ziel entgegen.
Dass zu dem Zeitpunkt meine Schwester Wilma uns von dem unten im Tal vorbeifahrenden Dampfzug aus sah – der Dampfzug wurde übrigens „Entenköpferle“ genannt – machte die Aufregung zu Hause perfekt, wo wir schon vermisst wurden und Suchaktionen liefen. Welche Aufregung zuhause über unser Verschwinden mit dem Stichwort „Steinbruch“ ausgelöst wurde, war damals noch nicht in unserem Kindergehirn als Warnsignal programmiert. Dieser Wirbel, der sich wegen uns zuhause abspielte, überforderte unsere Vorstellung und schließlich kamen wir in Reihen an mit dem stolzen Gefühl, es geschafft zu haben.
Damals hatten nur Rathäuser Telefone. Man rief von Ittlingen aus im Reihener Rathaus an, dass zwei Buben im Alter zwischen 4 und 5 Jahren eintreffen könnten und man diese Ausreißer einfangen möchte, wenn sie dort ankommen sollten.
Auf so einem Dorf sprach sich ein solches Ereignis wie ein Lauffeuer herum und meine wesentlich ältere Cousine wohnte damals am Ortseingang von Reihen im 4. oder 5. Haus. Sie empfing uns mit den Worten aus einem Fenster im 2. Stock: „Wo kommt denn ihr bloß her?“ Und die ersten Vorwürfe prasselten auf uns ein.
Die Nachricht von unserem Verschwinden aus Ittlingen war auch bei ihr angekommen und sie hatte wahrscheinlich schon auf uns gewartet. Nach dem leichten „Gewitter“ von meiner Cousine lief Erik weiter zu seiner Großmutter und Mina nahm mich mit nach oben in ihre Wohnung. Sie hatte noch vom Mittagessen für ihre Familie, die schon wieder weggegangen war, genug übrig. Das Essen tat meinem schon hungrig gewordenen Magen sehr gut. Rotkohl mit Kartoffelbrei und Kotelett, ein leckeres Essen, das es zuhause nicht gegeben hätte.
Zwischenzeitlich war mein Vater informiert worden und konnte mich bei meiner Cousine in der Ziegelei in Empfang nehmen. Auch in Ittlingen wurde über die Rathäuser Entwarnung gegeben.
Obwohl ich jetzt das nächste „Gewitter“ erwartete, wurde ich von meinem Vater herzlich empfangen und durch die Ziegelei geführt, wobei er mir zeigte, wie und was am jeweiligen Arbeitsplatz hergestellt wurde. Als es dann zum Feierabend hupte, fuhren wir gemeinsam mit dem Fahrrad, ich auf der Mittelstange sitzend, nach Hause.
Mit im Haus wohnte Jakob Buwing, Dorfhilfspolizist und Kinderschreck mit buschigen Augenbrauen, kleinen Schweinsaugen und schwarzem Mantelumhang. Dieser Kerl kam mit einem großen Schlachtermesser zu uns in die Küche, um mir zur Strafe die Ohren abzuschneiden. Was Schlimmeres hätte er sich nicht ausdenken können. Das war dann auch für meinen Vater zu viel und er rettete mich vor diesem Ungeheuer.
Den Besuch bei meiner Cousine und in der Ziegelei möchte ich in meinem Leben nicht missen. Ein bisschen hatten Erik und ich in unserem Dorf mal für Abwechslung gesorgt. Erik wurde von seinem älteren Bruder abgeholt. Sie fuhren mit dem Entenköpferle nach Ittlingen. Da er von uns beiden der Jüngere war, war ich derjenige, den man für diese Aktion verantwortlich machte. Deshalb hatte man Erik von den Drohungen verschont.
Herrmann Lunt (damals Lumpp), geschrieben in Hamburg am 12.04.2016