Ein in Vergessenheit geratener Brauch ist die früher in den meisten Ittlinger Familien  begangene „Vorsetz“. Um was es sich dabei handelt, wie sie entstand und ich sie als Kind noch Ende der 50er bis Anfang der 60er Jahre erlebte, soll hier geschildert werden.

In der Regel fand eine Vorsetz im Winter statt. In unserem lange rein bäuerlich geprägten Dorf ruhte dann die Arbeit auf dem Feld und man hatte Zeit und Muße, sich mit Freunden, Nachbarn und Verwandten zusammen zu setzen. Die Vorsetz folgte je nach Familie einem festgelegten Ritual. So trafen sich die Frauen, oft in Begleitung von Kindern und Enkeln an einem Nachmittag bei der Einladenden. Es gab Kaffee und Kuchen, die Frauen strickten und unterhielten sich, während die Kinder miteinander spielten. Natürlich gab sich die jeweilige Gastgeberin größte Mühe bei der Bewirtung ihrer Gäste, und so gab es immer besondere Kuchen oder sogar Torten, die sonst kaum gebacken wurden. Gerade wir Kinder schätzten das besonders, alles schmeckte ganz aufregend und neu.

Die Tagelöhner und Helfer, die während des Sommers bei den Bauern mitarbeiteten, wurden ebenfalls an einem Nachmittag bewirtet, dabei ließ man das Arbeitsjahr mit ernsten und lustigen Gegebenheiten nochmals Revue passieren.

Die jüngeren verheirateten Paare trafen sich zur Vorsetz am Abend nach getaner Stallarbeit. Gestrickt wurde dabei kaum, dafür mehr getrunken und so eine Vorsetz konnte ganz schön laut werden und bis spät in die Nacht dauern. Auch hier legten die Gastgeber ihren ganzen Ehrgeiz in eine gute Bewirtung, es gab kunstvoll „belegte Weck“ mit gekaufter Wurst, Käse, Lachs, die berühmten russischen Eier, gekochte Eier mit einem Chinesenhut aus Salami und einem Gesicht aus Ketchup oder Mayonnaise, sogar Hawaiitoast – alles was man sich sonst üblicherweise nicht leistete. Jede Gastgeberin hatte ihre Spezialitäten. Für uns Kinder war die Vorsetz am Abend etwas Besonderes. Wir mussten zwar wie üblich zu Bett, durften aber vorher die gerichteten Leckerbissen probieren. Dann im Bett das Stimmengewirr der Gäste, ungewohnter Zigarettenrauch im ganzen Haus – alles war anders als sonst.

Je nach Familien- und Freundeskreis traf man sich bei der Vorsetz abwechselnd jedes Jahr bei einem anderen Gastgeber. Oft wurde aber auch innerhalb eines Winters von einem zum anderen gewechselt.

Entstanden ist die Vorsetz wohl aus den Spinnstuben im 18.-19. Jahrhundert. Um Licht und Heizung zu sparen, kamen meist junge Frauen und Mädchen abwechselnd bei einer Familie zusammen, um gemeinsam den Flachs zu spinnen. Natürlich kamen die jungen ledigen Männer zum „Helfen“ dazu, eine willkommene Gelegenheit, um im wahrsten Sinne des Wortes miteinander „anzubandeln“. Von den Grundherrschaften unseres Dorfes und den Pfarrern wurden diese Spinnstuben mit großem Misstrauen gesehen und mit strengen Reglements versehen. Die Obrigkeit sorgte sich dabei um das „sittliche Verhalten“ der jungen Leute. Bei diesen Zusammenkünften wurde zum Essen und Trinken etwas „vorgesetzt“, daraus ist wohl der Begriff der Vorsetz entstanden.

Die Tradition der Spinnstuben setzte bis in die 1950er Jahre im Winter das gemeinsame Maisausschälen fort. Dabei wurden von Hand die Lieschen (die die Maiskolben umhüllenden Blätter) entfernt, dann erfolgte das „Ausbrockeln“, das Brechen der Körner aus den Maiskolben. Diese Zusammenkünfte  boten ebenfalls Anlass für die jungen Leute des Dorfes zum gemeinsamen Zusammensein und für manchen Schabernack auf dem späten Nachhauseweg. So wurden an die Fensterscheiben von leicht erregbaren Dorfbewohnern Maiskörner geworfen und amüsiert verfolgt, wenn diese entnervt – manchmal im Nachthemd – auf die Straße stürzten und die Störenfriede zur Rede stellen wollten.

Die Vorsetz wurde bis Anfang der 60er Jahre gepflegt. In einer Zeit, in der es im Dorf im Gegensatz zu heute noch wenig Freizeitmöglichkeiten und Ablenkung gab, war die Vorsetz eine willkommene Unterbrechung des Alltags und eine wichtige Kommunikationsgelegenheit für Jung und Alt.

 

       Michael Hauk