Ein kaum noch bekanntes Kapitel Ittlinger Geschichte ist der Wegzug von Ittlinger Bauernfamilien im Jahr 1937 und deren Ansiedlung auf einer aufgesiedelten preußischen Staatsdomäne in Querfurt in Sachsen- Anhalt.

Die geschichtlichen Hintergründe der Ansiedlung von Bauernfamilien auf Großgrundbesitz, die sogenannte „Inneren Kolonisation“, liegen in den östlichen Provinzen Preußens. Dort setzte ab der Mitte des 19. Jahrhunderts mit der beginnenden Industrialisierung eine starke Landflucht ein. Diese wurde begünstigt durch eine ungesunde Verteilung von Grundbesitz, da sich mehr als die Hälfte des Grund und Bodens in den Händen von wenigen Großgrundbesitzern befand. Durch die Aufsiedlung von Gütern sollten leistungsfähige, krisenfeste bäuerliche Familienbetriebe geschaffen und damit eine Bindung an Grund und Boden erreicht werden. Dazu wurden in den einzelnen deutschen Staaten sog. Siedlungsgesell-schaften und während der Weimarer Republik eine Reichssiedlungsgesellschaft gegründet, die diese Aufgabe übernahmen. Diese Innere Kolonisation erfolgte in unterschiedlicher Intensität je nach der gerade betriebenen Agrarpolitik und verstärkt durch verschiedene Agrarkrisen. So wurden zeitweise private Großgrundbesitzer zum Verkauf oder durch Zwangsversteigerungen zur Aufgabe ihrer Betriebe gezwungen. Die Betriebe wurden dann teilweise von Siedlungsgesellschaften im Auftrag des Staates übernommen und für eine Aufsiedlung bereitgestellt.

Ihren Höhepunkt erreichte die Innere Kolonisation dann in den ersten Jahren des „Dritten Reiches“; sie passte den Nationalsozialisten nahtlos in deren „Blut- und Boden“ Ideologie und der vom „gesunden Bauerntum als Blutquell des deutschen Volkes“. Verstärkt wurden nun nicht nur durch Siedlungsgesellschaften erworbene Betriebe, sondern auch Staatsdomänen, d.h. im Besitz des Staates stehende, bislang als Ganzes verpachtete Großbetriebe auch in Mittel- und Westdeutschland  aufgesiedelt. In unserem Fall waren dies die Domänen Schloß Querfurt und Weidenbach mit zusammen 500 ha Land.

Wer konnte sich nun auf eine sog. „Neubauernstelle“ bewerben? In einem Zeitungsartikel aus dem Jahr 1937 heißt es dazu im pathetischen Jargon der damaligen Zeit: „Die Siedler sind streng nach Tüchtigkeit, Gesundheit und Rasse ausgewählt, meist handelt es sich um nachgeborene Bauernsöhne mit kleinen Wirtschaften“. Eine Zugehörigkeit zur NSDAP war nicht gefordert.

Die drei Ittlinger Familien Keller, Fritschle und Uhler, die sich zusammen mit weiteren Landwirtsfamilien aus dem Kraichgau ab 1936 um eine Neubauernstelle bewarben und angenommen wurden, betrieben solche durch die Realteilung entstandenen Kleinbetriebe mit Betriebsgrößen von 3-4 ha und mussten in äußerst beengten Anwesen wirtschaften. Tüchtig waren die Ittlinger, und so ergriffen sie nun mutig die Möglichkeit, zu größeren, zukunftsfähigen Betrieben und großzügigen neuen Wohn- und Wirtschaftsgebäuden zu kommen. Diese wurden für jeden Neubauern auf dem bisherigen Domänengelände  inmitten der neuen Parzellen nach modernen Gesichtspunkten erstellt, mit damals kaum fassbaren Verbesserungen und Erleichterungen bei der Bewirtschaftung. Jeder Neubauer erhielt  neben den neuen Gebäuden 12-14 ha Ackerland in sein Eigentum mit der Möglichkeit der Zupacht.

Die Finanzierung wurde großzügig von Seiten des Staates gefördert, so dass jeder Teilnehmer seine Schulden in einem überschaubaren Zeitraum tilgen konnte. Der Umzug in die neue Heimat erfolgte im Frühjahr 1937, mit der Bahn wurden Möbel, Hausrat, Geräte, Maschinen und das Vieh nach Querfurt transportiert, ein Abenteuer für alle! Die Querfurter Zeitung begleitete den Anfang der Neubauern journalistisch und wies in einem Artikel staunend darauf hin, dass „die Badenser ihren Most in Fässern mitgebracht und in den neuen Kellern eingelagert haben!“

Alle Neubauern begannen erfolgreich zu wirtschaften und wurden öfter von Ittlingern besucht. Den Erzählungen nach berichteten die Besucher nach ihrer Rückkehr begeistert und staunend von den Möglichkeiten in der neuen Heimat.

Auf dem Bild die Familie Fritschle, im Hintergrund das neue Anwesen nach dem Einzug. Das Mädchen auf dem Pferd ist Christa Fritschle, die dann ihr Herz in Ittlingen verlor, heute Frau Christa Ebert.

In diese Zeit brach nun der zweite Weltkrieg mit allen Sorgen und Schrecken herein. Die Männer mussten als Soldaten an die Front, während die Ehefrauen mit den Kindern, Kriegsgefangenen oder Zwangsarbeitern die Betriebe weiterführten. Zu Kriegsende wurde Sachsen-Anhalt zunächst von den Amerikanern besetzt, die Hoffnung, dass diese bleiben würden, erfüllte sich nicht. Nach den Abmachungen der Alliierten wurde Sachsen-Anhalt von den Russen besetzt und in die entstehende DDR eingegliedert.

Für die bislang selbständigen Betriebe brach eine schwere Zeit an: Die Verstaat-lichung der Landwirtschaft. Diese wurde zunächst als „Genossenschaftsbewegung“ bezeichnet, den Genossenschaften auf Ortsebene sollten alle Betriebe angehören und natürlich freiwillig beitreten. Dazu schrieb die Querfurter Zeitung:

„Einzelbauern aus Querfurt! Reiht Euch ein, denn wer den Sozialismus unterstützt, leistet eine gute Tat für den Frieden! Während im Westen  durch die imperialistische Politik des Grünen Plans die werktätigen Bauern verelenden und von Haus und Hof vertrieben werden, schließen sich in unserer DDR immer mehr Bauern zu Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften zusammen……Werdet Mitglied in der LPG, der Sozialismus siegt!“

In dem Artikel folgt dann eine lange Liste mit „freiwillig“ eingetretenen neuen Mitgliedern. Die Ittlinger Neubauern in Querfurt weigerten sich lange, der LPG beizutreten und gerieten dadurch mehr und mehr unter Druck durch staatliche Stellen, mussten sich ständig Überredungsversuchen und Pressionen erwehren. Schließlich wurde der Druck durch wirtschaftliche Zwangsmaßnamen unerträglich: Betriebsmittel wie Maschinen, Saatgut, Dünger, Futtermittel, Vieh wurden den Einzelbauern nicht mehr zugeteilt, während gleichzeitig ihr Ablieferungssoll drastisch erhöht wurde. Ab den Jahren 1954-56 mussten dadurch alle bisherigen Neubauern Mitglieder der LPG werden und als Angestellte auf ihren ehemaligen Flächen und Ställen arbeiten.

Nach der Wende erhielten die früheren Besitzer bzw. deren Nachkommen ihre Flächen zurück und verpachteten diese überwiegend an die örtliche Agrargenossenschaft. In der ehemaligen Bauernsiedlung mit 7 Anwesen wirtschaftet heute noch ein „Wiedereinrichter“, der sich auf Obstbau spezialisiert hat.

Eine weitere Ittlinger Familie, Walter Huber, wurde vom Krieg noch härter getroffen. Sie erhielt 1939 eine Neubauernstelle östlich der Oder. Unter Verlust ihres nahezu gesamten Besitzes musste die Familie Anfang 1945 vor der heranrückenden Ostfront nach Westen flüchten und kehrte nach Ittlingen zurück. Eine moderne Hofstelle und ein zukunftsfähiger Betrieb blieben weiter Wunsch der Familie, dieser erfüllte sich 20 Jahre später, als ein Anwesen in Hoffenheim erworben werden konnte.

Anmerkung:

Das Bild sowie die erwähnten Zeitungsberichte wurden uns von Frau Christa Ebert dankenswerterweise zur Verfügung gestellt.

 

    Michael Hauk